G. Clemens : Die Türkei und Europa

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Titel
Die Türkei und Europa.


Herausgeber
Clemens, Gabriele
Erschienen
Hamburg 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

In den Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis zwischen Europa und der Türkei ist ein Blick auf die Wandelbarkeit der Verhältnisse darum wichtig, weil er eine Gegenwahrnehmung zur fundamentalistischen Behauptung der grundsätzlichen Untervereinbarkeit der beiden Seiten gestattet. Ein kürzlich erschienener Band zu einer allerdings bereits etwas älteren Ringvorlesung der Universität Hamburg vermittelt wichtige Einsichten in die verschiedenen Veränderungen, die im europäisch-türkischen Verhältnis eingetreten sind. Die Herausgeberin Gabriele Clemens erinnerte mit der Befriedigung, die man in der historischen Zunft hat, wenn man frühere Selbstverständlichkeiten mit heutigen Beinahe-Selbstverständlichkeiten kontrastieren kann, das entschiedene Wort des EWG-Präsidenten Hallstein von 1963, dass die Türkei zu Europa gehöre. Jürgen Deininger würde dem, wenn auch für vorchristliche Jahrhunderte, zustimmen, stammt doch die anatolische Westküste zum «Wurzelbereich» der europäisch-okzidentalen Kultur. Jürgen Sarnowsky verschweigt nicht, dass sich europäische «Einigung» im Spätmittelalter nicht mit den Osmanen, sondern ausdrücklich gegen sie herausgebildet habe und diese Ablehnung bis heute fortwirke. Die damals entstandenen nega tiven Stereotype müssten überwunden werden, das Beispiel der deutsch-französischen Beziehungen zeige, dass «Erbfeindschaft» überwunden werden könne.

Eine wichtige Rolle kommt der Einschätzung des Islam zu. Mehrfach wird jedoch bemerkt, dass eine bis zu einem gewissen Grad bestehende «Kulturgrenze» nicht durch die Religion gebildet würde, sondern durch eine autoritäre Kultur und durch den ausgeprägten (von Europa übernommenen) Nationalismus. Sicher hat die Deutung des «September 11» den Islam einer neuen Interpretation ausgesetzt, dieser wird aber, wie Sena Ceylanoglu (Bundesministerium des Innern, Berlin) einleuchtend ausführt, durch zwei weitere Umstände zusätzlich problematisiert: Die an sich erwünschte und geforderte Demokratisierung der türkischen Gesellschaft lässt die bestehende traditionelle Religiosität stärker in Erscheinung treten; und die Integrationsprobleme türkischer Migrantengruppen in Europa vermitteln ein einseitiges Bild der Türkei und führen zu Fehleinschätzungen bezüglich der Integrationsunfähigkeit eines ganzen Staates.

Wolfgang Burgdorf betont, dass «die Geschichte» nicht gegen die Aufnahme der Türkei in die EU spreche, weil diese «keine Summe feststehender Ereignisse» sondern ein «riesiges Reservoir» an Möglichkeiten biete. Dem entspricht das Unikum, dass – erstmals in der Geschichte der EU – die Beitrittsverhandlungen ausdrücklich als «ergebnisoffen» bezeichnet wurden. Die Möglichkeit eines auf Dauer angelegten Spezialstatus wird von türkischer Seite allerdings abgelehnt, weil zwischen dem jetzigen Status, der bereits ein spezieller ist, und der Vollmitgliedschaft kein Zwischenstatus mehr denkbar sei. Mehrere Beiträge (z.B. von Burcu Dogramaci und Dietrich Jung) zeigen, dass die in den letzten Jahrzehnten angestrebte EU-Mitgliedschaft eine Fortsetzung von länger laufenden Europäisierungsbemühungen
ist.

Der zentrale Vorgang, der Wandel auf europäischer Seite von der sehr entgegenkommenden zur eher distanzierten Haltung, wird von Sena Ceylanoglu treffend beschrieben. Dabei werden drei wesentliche Veränderungen festgehalten: 1. das rückläufige geostrategische Interesse an der Türkei nach dem Ende des Kalten Krieges, 2. die annährende Gleichsetzung von Zollunion und Vollmitgliedschaft und 3. der dem Islam in diesem Ausmass erst neuerdings zugeschriebene Bedrohungscharakter. Eine inzwischen hinfällig gewordene Komponente der Tür kei-Freundlichkeit der frühen 1960er Jahren lag im Umstand begründet, dass die junge EWG in Drittstaatenabkommen eine willkommene Aufwertung gegenüber dem Konkurrenz-Unternehmen der EFTA sah. Veränderungen gab es freilich auch auf türkischer Seite.

Der Beitrag von Jürgen Nielsen-Sikora und Abdullah Kulac über den in einem türkischen Blatt (Zaman) geführten interkulturellen Dialog spricht davon, dass eine Brücke zwischen der türkischen und der europäischen Kultur gebaut werden müsse. Solche «Überwindungsdiskurse» zeigen allerdings, dass sie indirekt die Stereotypisierung nähren, weil sie die beiden Seiten der Brücke einerseits von einander distinkter und anderseits in sich homogener erscheinen lassen, als sie sind. Brücken müssen in dieser Frage auch zwischen Positionen innerhalb der beiden Seiten gebaut werden. Die vorliegende Publikation leistet dazu auf der westeuropäischen, deutschsprachigen Seite einen wertvollen Beitrag.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Gabriele Clemens (Hg.): Die Türkei und Europa. Hamburg, LIT-Verlag, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 492-493.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 492-493.

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